"Etsi antipodes nostri non sint". Die älteste Landeskunde Japans
von Frank Böhling
 

Die allmähliche und diskontinuierliche Herausbildung eines Japanbildes in Europa ist ein spannendes Kapitel der Kulturgeschichte, wie jeder bestätigen wird, der vor einigen Jahren die Ausstellung im Gropius-Bau zu diesem Thema gesehen hat. Wichtige Etappen dieser Entwicklung sind mit den Namen Franz Xaver/Xavier SJ (1506-1552), Engelbert Kaempfer (1651-1716) und Franz von Siebold (1796-1866) verbunden. Xavier, Jesuit der ersten Stunde, bereiste im Auftrag seines Ordens mehrere Reiche Asiens und hielt sich u.a. auch drei Jahre in Japan auf, Beobachtungen und Eindrücke finden sich in seinen zahlreichen Briefen. Kaempfer stand als Arzt in holländischen Diensten, seine Bewegungsfreiheit war wegen der Abschließungspolitik des Tokugawa-Shogunats im wesentlichen auf den Handelsstützpunkt Deshima beschränkt, von wo aus er sich über "Things Japanese" zu informieren versuchte. Von Siebold schließlich konnte auf die Erkenntnisse all seiner Vorgänger zurückgreifen, als er sein Bild des traditionellen Japans zeichnete, bevor dort mit der Ankunft der Schwarzen Schiffe die Moderne begann.

Bernhard Varenius, der Verfasser der ältesten Länderkunde Japans, an die ich hier erinnern möchte, ist, um es vorweg zu sagen, nie in Japan gewesen. Seines Zeichens Doktor der Medizin, scheint er als Arzt nur gearbeitet zu haben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sein Herz hing dagegen an der Kartographie und damit zusammen hängenden mathematischen Studien. Die "Beschreibung des japanischen Reiches" (der Titel lautet in vollständiger barocker Pracht: "Beschreibung der Reiche Japan und Siam. Ferner von den religiösen Anschauungen der Japaner und Siamesen. Von den verschiedenen Religionen aller Völker. Weichem, unter Voranstellung einer Abhandlung über die verschiedenen Staatsformen, einige Exzerpte zum Glauben der Afrikaner aus Leo Africanus beigegeben wurden") erschien 1649 und erneut 1673 in Cambridge (diese Ausgabe habe ich benutzt) als ein Nebenprodukt dieser Beschäftigung. Varenius schreibt in der Widmung an den Hamburger Senat vom 1.8.1649, sein Verleger hätte ihm seine Untersuchungen zur "Conica, difficillima totius Mathosis parte" als unverkäufliche Ladenhüter zurückgeschickt und ihm vorgeschlagen, doch einmal etwas Populdäreres zu schreiben. Daraufhin habe er sich eine Übersicht über alle auf Lateinisch zugänglichen Informationen über Japan verschafft und festgestellt, daß sich noch niemand die Mühe gemacht hatte, die verstreuten Berichte holländischer und portugiesischer Reisender (Aiversis Scriptoribus partim Beigis, partim Lusitanist) zusammenzustellen. Die Mehrzahl stammte von Missionaren wie Xavier, deren Interesse sich naturgemäß auf die religiösen Anschauungen der Japaner konzentrierte, aber auch Angaben zur Geographie, Flora und Fauna, Beschreibungen der politischen Institutionen, Sitten und Gebräuche usw. kamen dort nicht zu kurz. Die "Description regni Japoniae" ist also kein Reisebericht, sondern eine gelehrte Kompilation, die späteren Japanreisenden (Varenius hatte allerdings keine Touristen im Auge, sondern Kaufleute) als Reiseführer dienen konnte.

    "Das japanische Reich heißt gewöhnlich Japan, seine Einwohner nennen es allerdings in ihrer eigenen Sprache Hippon. Es ist die äußerste der uns bekannten Gegenden im Osten, die die Sonne allmorgentlich als erste bescheint. Gegenüber, im Westen, liegen California und Nova Granada, die Entfernung beträgt etwa tausend Meilen."

Noch einer Übersicht über die geographische Gestalt (siehe Karte auf der nächsten Seite) folgt eine knappe Beschreibung der drei Hauptinseln (von Hokkaidô ist natürlich noch nicht die Rede). Danach richtet sich das Interesse auf die politischen Institutionen und deren historische Genese.

    Wie früher die Dayri, so halten heute die Caesares die absolute Macht in Händen. Alle Einwohner, Könige und Fürsten (Reges et magnates) ebenso wie die niedrigsten Stände, verwenden jede Mühe darauf, dem Caesar jeden Dienst zu erweisen. Die Söhne der Könige und Dynasten, die ihren Vätern auf dem Thron nachfolgen sollen, werden am Hof des Caesar erzogen; dort leben sie wie Geiseln, die sich von Jugend an daran gewöhnen, unter den Augen des Caesar seine Majestät zu verehren. ... Was den nominellen Ehrentitel (nomine tenus ... inanem ... honorem) angeht, ist der Größte des Reiches der Dairus, was aber die Befehlsgewalt (imperium) angeht, der Caesar.

Aus heutiger Sicht ist nicht schwer zu erraten, daß sich hinter "Dayrus"/"Dairus" der Tennô und hinter "Caesar" der Shôgun verbirgt. Für Varenius allerdings bleibt einigermaßen schleierhaft, in welchem Verhältnis genau diese beiden Mächte zueinander stehen. Für ihn scheint am plausibelsten gewesen zu sein, "Caesar" als kaiserliches Amt zu interpretieren, "Dayrus" dagegen als dynastischen Eigennamen. Die in dieser Hinsicht konfusen Berichte der Jesuiten über die Kämpfe des 16. Jahrhunderts und die Zurückdrängung der Macht der "Dayri" durch "Nubunanga" (Oda Nobunaga), "Taycko" (Toyotomi Hideyoshi) und schließlich "Ongos(s)chio" (Tokugawa Ieyasu?) hat er sich offenbar nach der Analogie des mitelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas zurechtgelegt. So wie die verschiedenen romanischen und germanischen Herrscherdynastien ihre Plätze im konstitutionellen Rahmen des Römschen Reiches einnahmen, so muß eben, so meinte er, auch in Japan das kaiserliche Amt von einer Dynastie auf die nächste übergegangen sein. Varenius konnte sich nicht vorstellen, daß seit der Kamakurazeit über die Jahrhunderte eine Art Doppelherrschaft bestanden hatte, sondern geht davon aus, daß "Sitz und Hof des Caesar" früher in "Meaci" (Kyôto) lagen, dann aber nach "Jedo" verlegt wurden.

Die Wirren des 16. Jahrhunderts nehmen einen breiten Raum ein, Schlachtbeschreibungen, Geschichten von Treue und Verrat und Blicke durchs Schlüsselloch in die Boudoirs der Herrscher (die sodomitischen Praktiken Oda Nobunagas!) zeigen, daß Varenius, eingedenk der Mahnungen seines Verlegers, dem Publikum gab, wonach es verlangte. Danach wendet er sich von der hohen Politik der gesellschaftlichen Ordnung zu und charakterisiert der Reihe nach die verschiedenen Stände. Er orientiert sich nicht an der üblichen Vierständeordnung (shi nô kô shô, Krieger - Bauer -Handwerker - Kaufmann), sondern gibt insgesamt 13 Ränge an, von den die ersten neun feineren Abstufungen innerhalb des Adels und der Kriegerkaste vorbehalten sind. Kaufleute (X) seien "ehrlos", da sie "schamlos lügen und Adlige ebenso wie einfache Leute betrügen", Handwerker (X1) gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen", und Bauern (XII) und "Sklaven" (mancipia, XIII) würden "von allen verachtet, weil sie sich am meisten abmühen und wie Gefangene (ut captivi) ihr Leben fristen müssen." Inwieweit hier auch auf den Nicht-Stand der Hinin/Eta gezielt wird, bleibt unklar.

Um seinen europäischen Lesern die Eigenart des japanischen Volkes insgesamt näherzubringen, unterscheidet Varenius allgemein menschliche "moralische Tugenden und Laster" ("virtutes et vitia moralia") von spezifischem, bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten varierendem "Ehrbaren und Schändlichen der Meinung nach ("honesta et turpia opinione"). Die Definitionen und Bewertungen der Tugenden und Laster folgen, für einen Humanisten des 17. Jahrhunderts selbstverständlich, der christlichen Moral. Zwar hatte allem Anschein noch in diesem Teil der Welt vor der Ankunft der Portugiesen das Licht des Evangeliums nicht geleuchtet, aber immerhin findet Varenius Beispiele für ein auch von Heiden realisierbares moralisch vorbildliches Verhalten: erwähnt wird u.a. der hohe Stand der Gelehrsamkeit in den buddhistischen Klöstern (dazu unten mehr) als Indiz der "Weisheit" und die Samuraitugend der "Tapferkeit".

Viel interessanter ist allerdings der Vergleich der europäischen und japanischen Sitten und Gebräuche:

    "Da unterscheiden sie sich sehr von uns, was auch nicht allzu verwunderlich ist, da sie, die entferntesten der Völker im Osten, fast auf der gegenüberliegenden Seite des Globus leben, auch wenn sie nicht unsere Antipoden sind (etsi antipodes nostri non sint - hier spricht der geographische Experte)."

Für diese Gegenüberstellungen einige Beispiele aus dem 21. Kapitel: "Bei uns geht der Vornehmere auf der rechten, der Geringere auf der linken Seite, in Japan ist es umgekehrt. ... Die Farbe der Trauer ist bei uns schwarz, in Japan weiß. ... Bunt ausstaffierte Männer rufen bei uns Gelächter hervor, dort tut es dem Ansehen keinen Abbruch. ... Wir folgen dem Trauerzug, dort gehen Verwandte und Freunde voran. ... Wir verlangen von den Eltern der Braut eine große Mitgift und bedienen uns manchmal auch zweifelhafter Mittel, um sie ihnen zu entwinden; dort allerdings wird, auch was sie freiwillig anbieten, zurückgewiesen. ... Wir schätzen bei Frauen weiße Zähne, sie schwarze. ... Unsere Getränke sollen kalt sein, ihre warm. ... Wir setzten den Eigennamen voran, sie den Familiennamen." Mit Verwunderung wird auch verzeichnet, daß der Name nicht während des ganzen Lebens gleich bleibt, sondern häufig in den verschiedenen Lebensaltern gewechselt wird. Nicht recht verständlich sind Beobachtungen wie die folgenden: "Wir in Europa ziehen unseren Mantel an, wenn wir das Haus verlassen, und legen ihn bei der Rückkehr ab, die Japaner dagegen ziehen ihn aus, wenn sie gehen, und an, wenn sie zurückkehren. ... Zum Gruß entblößen wir das Haupt, sie die Füße. .., Wir steigen von links aufs Pferd, sie von rechts."

Was die Beziehungen zwischen Männern und Frauen angeht, sieht Varenius Japan in Übereinstimmung mit den Sitten Asiens insgesamt:

    "Polygamie ist unter der Bedingung gestattet, daß der Mann eine Frau zur legitimen Ehefrau nimmt; darüber hinaus kann er soviele Nebenfrauen oder Konkubinen unterhalten, wie ihm sein Vermögen gestattet. Plebeier und Arme zwingt ihr Geldbeutel, sich mit einer Frau zu begnügen, reiche Magnaten machen von ihrer Lizenz ausgiebig Gebrauch."

Die Heiratsanbahnung ist allein Sache der Eltern bzw. der Verwandschaft. Was die Stellung der Frau angeht, kennt auch Varenius das alte Sprichwort, daß "sie nie ihr eigenes Haus besitzt": "puellam enim in parentum aedibus, nuptam in mariti, viduam in liberorum domibus agere."

Gegen Ende findet sich im 25. Kapitel eine Charakteristik der japanischen Gelehrten, die in den höchsten Tönen gepriesen werden: Sie würden darin "alle Provinzen Indiens und der angrenzenden Inseln" überragen und auch den Chinesen, was Fleiß und Scharfsinn anlangt, in nichts nachstehen. Dies Lob bezieht sich auf die buddhistischen Priester (Bonzii), die sich neben der Rezitation ihrer heiligen Schriften und der Praktizierung ihrer Riten auch mit Naturkunde, Mathematik, Medizin und Recht beschäftigten:

    "Ihre Klöster entsprechen unseren Akademien. ... Die Philosophi Griechenlands, die Magi Persiens, die Sacerdotes Ägyptens, die Brachmani Indiens, die Dryades (Druiden) Galliens sind die Bonzii Japans."

Eine kurze Schlußbemerkung. Bei der Lektüre der "Descriptio regni Japoniae" erstaunt aus heutiger Perspektive eigentlich am meisten, wie wenig das Fremde als solches wahrgenommen wird; nicht der Schock über das Inkompatible herrscht bei Varenius vor, sondern immer wieder helfen Analogien dabei, das auf den ersten Blick Fremde als schon Vertrautes wiederzuerkennen. Humanistische Annahmen wie die eines universalen Naturrechts und einer zumindest partiell mit dem christlichen Glauben identischen Naturreligion domestizieren die segregierenden Tendenzen, erst für den Exotismus der Romantik (um vom kolonialen Rassismus zu schweigen) werden die Japaner wirklich zu Antipoden.

Aktualisiert: 10.05.2001   |   Kontakt: Webmaster  |  © japonet 2001