ATOMENERGIE IM LAND DER „IMMERWÄHRENDEN SONNE“
von Benjamin Lunau
 

"Wir hätten es nicht erfahren, wäre Strahlung ausgetreten. Wir wären hier nicht weggekommen. Höchst wahrscheinlich hätte man uns zum Sterben hier gelassen: Unsere Anweisungen für den Fall einer nuklearen Katastrophe sind, uns in ein festes Gebäude zu begeben und zu warten." Aus diesen Worten des am Biwasee ansässigen buddhistischen Mönches Nakajima Tetsuen spricht das neue Mißtrauen vieler Bürger Japans gegenüber der Kernenergie.

Ein Rückblick

Dabei blickt die Atomenergie in Japan auf eine Periode hoher Akzeptanz zurück. Infolge des ersten Ölschocks 1973 stellte das MITI die Notwendigkeit fest, alternative Energiequellen mit größerer Intensität als bisher zu erschließen, um vom importierten, zuweilen knappen und teuren Erdöl unabhängiger zu werden, auf der damals rund 80% der japanischen Primärenergieversorgung basierte. Die Entwicklung neuer alternativer Energien wurde beschlossen, unter deren Begriff auch die Kernenergie gefaßt wurde, um dem rohstoffarmen Japan auf dem Gebiet der Energiewirtschaft die Eigenversorgung zu ermöglichen.

Über dieses Argument des "armen Landes" konnte lange Zeit ein Konsens in der Bevölkerung geschaffen werden, relativ widerstandslos den Bau von Reaktoren in ihrer Nachbarschaft hinzunehmen. Ergaben sich dennoch einmal Verzögerungen, handelte es sich in der Regel eher um die Taktiken der Gemeinden, vom Staat oder den privaten Energieproduzenten die Finanzierung lang benötigter kommunaler Einrichtungen im Austausch zur Baugenehmigung herauszuhandeln, als um ernstgemeinten Widerstand gegen die Atomwirtschaft.

Auf diese Weise sind in ganz Japan inzwischen unter der Ägide der Science and Technology Agency, die die Power Reactor and Nuclear Fuel Development Corporation (Dônen) beaufsichtigt, 51 Reaktoren entstanden, von denen 49 kommerziell genutzt werden und insgesamt 32% der Elektrizität in Japan produzieren. Und vor dem Hintergrund der Beschlüsse der Klimakonferenz in Kyôtô im Dezember 1997, die auf eine Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen abzielen, hat Premierminister Hashimoto angekündigt, daß bis zum Jahr 2010 noch 20 weitere Reaktoren in Betrieb genommen werden sollen. Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, daß die atomgestützte Energiewirtschaft in Japan jährlich rund 600 Millionen Tonnen weniger Kohlendioxid, eines der wichtigsten Treibhausgase überhaupt, erzeugt. Und eine japanische Studie hat zu dem Ergebnis geführt, daß Atomstrom sogar weniger Kohlendioxid freisetzt als Solarstrom.

Müßten also nur die Emissionen von Treibhausgasen berücksichtigt worden, wäre die Produktion von Elektrizität mit Hilfe der Atomenergie sicher die beste Alternative. Allerdings fallen bei dieser Technologie ganz andere hoch problematische Abfallstoffe an, mit denen die Atomwirtschaft Japans schon bald nicht mehr fertig zu werden droht.

Nachhaltige Müllproblematik

Ein herausragender ökologischer Pferdefuß der Stromerzeugung durch Kernspaltung ist die Anhäufung nuklearen Mülls. Nach dem Spaltungsprozeß bleibt sogenannter "heißer" Müll in Form der ausgebrannten Brennstäbe zurück, die zuerst in einem Wasserbecken zur Abkühlung kommen, bis sie in Wiederaufbereitungsanlagen weiterverarbeitet oder in Endlagern entsorgt werden. Trotz der enormen Mengen nuklearen Mülls (schätzungsweise zwischen 900 und 1300 Tonnen heavy metal jährlich), den die japanischen Reaktoren jährlich produzieren, wurde das Problem der Müllentsorgung lange Zeit von der Öffentlichkeit ferngehalten.

Durch die Wiederaufbereitung japanischen Atommülls in Frankreich und Großbritannien wurde über Jahre hinweg die Tatsache kaschiert, das die Lager- und Aufbereitungskapazitöten im Inland in einem krassen Mißverhältnis zu der anfallenden Müllmenge stehen. Allerdings sind von den insgesamt 5600 Tonnen (Gewicht des Urananteils), über die sich die Vertrüge mit den europäischen Wiederaufbereitungsanlagen erstrecken, schon eine Menge von 5500 Tonnen nach dort verschifft worden. Viele Atomstromerzeuger, wie zum Beispiel Tokyo Electric Power (TEPCO), haben keinen Anteil mehr an den verbleibenden 100 verschickbaren Tonnen und müssen sich um eine Versorgung in Japan kümmern. Aber hier wird die Lage ernst: Insgesamt existiert eine Lagerkapazität von 9500 Tonnen abgebrannten Materials. Davon sind schon 5150 Tonnen genutzt.

Auch die Abarbeitung des Müllberges in Wiederaufbereitungsanlagen wird nicht funktionieren, denn die einzige Anlage dieser Art in Japan, Tokaimura, ist lediglich in der Lage, 90 Tonnen Nuklearmüll im Jahr zu verarbeiten. Eine zweite Aufarbeitungsanlage, Rokkashomura, wird nach einigen Verzögerungen technischen und finanziellen Ursprungs wohl im Jahr 2003 die Arbeit aufnehmen und es sollen dann maximal 800 Tonnen heavy metal im Jahr wiederaufbereitet werden. Der Plan, eine weitere Anlage bis zum Jahr 2010 zu bauen, mußte aus verschiedenen Gründen aufgegeben werden. Selbst bei optimistischen Rechnungen ergibt sich, daß den Reaktorbetreibern im Jahr 2003 die Lagerkapazitäten ausgehen werden. Sie arbeiten zwar daran, die Kapazitäten der bereits eingerichteten Lager zu maximieren, aber dort werden sie nicht den Platz für die schätzungsweise 6000 Tonnen zusätzlich anfallenden Mülles finden, die bis zum Jahr 2030 wohl untergebracht werden müssen.

Der Purusâmaru-Plan

Der STA ist diese Entwicklung nicht verborgen geblieben, wenngleich sie über Jahre hinweg einen Wesentlich größeren Aufwand betrieben hat, neue Reaktoren zu bauen, als sich um die Entsorgung der Abfallstoffe zu kümmern. Letztlich strebte sie die Einrichtung eines geschlossenen Plutonium-Kreislaufes der japanischen Atomwirtschaft mit Wiederaufbereitungsanlagen und Schnellen Brütern an. Attraktiv wurde dieses System dadurch, daß die STA Uran, also die Grundlage der herkömmlichen Atomstromgewinnung, auch als begrenzt vorhandenen Rohstoff erachtete und man zudem auf diese Weise das aus den wiederaufbereiteten ausgebrannten Brennstäben gewonnene Uran und Plutonium zum Einsatz bringen könnte. Mit dem Versuchsreaktor Jôyô ("Immerwährende Sonne") und dem Prototypen eines schnellen Brüters Monju wurde die Entwicklung der notwendigen Technologie begonnen. Die notwendigen Vorbereitungen sollten aber ein Umsteigen auf diese Technoligie frühestens im Jahr 2030 ermöglichen.

Deshalb wurde der sogenannte purusamaru-Plan (abgeleitet von plutonium thermal use) aus der Taufe gehoben, nach dem das Plutonium aus den Wiederaufbereitungsanlagen nun in Form eines Mischoxides (MOX) aus Plutonium und Uran auch Einsatz in den herkömmlichen Leichtwasserreaktoren finden soll. Bis zu 30% des Brennstoffes dieser Reaktoren sollen laut Angaben der STA gefahrlos aus MOX zusammengesetzt werden können.

An der mittelfristigen Müllproblematik Japans ändert dieser Plan jedoch nichts und so werden neue Lagerstätten gebaut werden müssen; wegen Platzmangels an Stellen, an denen bisher noch keine Anlagen der Atomstromgewinnung stehen, was neue Genehmigungen durch die jeweiligen Präfekturen voraussetzt. Und eben diese scheitern in letzter Zeit am Widerstand der Bürger, in deren Nachbarschaft die Lager entstehen sollen. Die Stimmung in der japanischen Öffentlichkeit gegenüber dem japanischen Atomprogramm hat sich geändert.

Skandale/Nachrichtenpolitik

Eine ganze Reihe von Störfällen und die Art und Weise, mit der in der Öffentlichkeit mit diesen Unfällen umgegeangen wurde, haben das Vertrauen der Japaner in die Zuverlässigkeit dieser Form der Energie rapide schwinden lassen.

Den ersten Anstoß erregte ausgerechnet ein Vorfall in dem von der Dônen betriebenen Prototypen eines Schnellen Brüters Monju, eines Kernstückes des von der STA angestrebten Plutonium-Kreislaufes. Der Reaktor befand sich erst kurz im Testbetrieb, als durch Risse einer fehlerhaft verarbeiteten Leitung Natrium aus dem Sekundärkühlkreislauf austrat und eine radioaktiv kontaminierte Dampfwolke über der Anlage aufstieg. Es wurde wegen der Augenfälligkeit des Störfalles Alarm gegeben, in der Folgezeit versuchte der Betreiber Dônen jedoch, das Ausmaß des Unglückes durch das Vorenthalten von Informationen und sogar das gezielte Verbreiten von Fehlinformationen zu verschleiern. Der Betrug flog auf, ein Aufschrei der Empörung ging durch die japanische Öffentlichkeit und sie war auch durch den Rücktritt des Dônen-Chefs nicht wirklich zu besänftigen.

Und dies war erst der Anfang, eine. ganze Serie von unglücklich vertuschten Störfallen erschütterte das Vertrauen der japanischen Bürger in die Betreiber der Reaktoren, Lager und Wiederaufbereitungsanlagen immer weiter. Im Dezember 1996 konnte in der Wiederaufbereitungsanlage in Tôkaimura nordöstlich von Tôkyô ein Feuer nicht unter Kontrolle gebracht werden, und es kam zu einer Explosion, durch die 37 Arbeiter radioaktiv kontaminiert wurden. Auch die Sicherheit der Lagerstätten kann nicht mehr als gegeben angenommen werden, nachdem im Juli 1997 wiederum in Tôkaimura ein bedenkliches Uran-Leck entdeckt wurde. Im Nachspiel der Vorfälle wurde von Dônen sogar Videomaterial gefälscht, um die Skandale zu verschleiern.

Symptomatisch dafür, wie die mangelhafte Informationspolitik der Reaktorbetreiber die Bevölkerung zusätzlich gefährdet und für Verunsicherung sorgt, war das Verhalten der Betreiber firmen von Reaktoren anläßlich des Erdbebens von Kôbe. Dieses Erdbeben machte sich in rund 130 km Entfernung am Biwasee, wo 15 AKW, darunter auch ein extrem alter Heißwasserreaktor, betrieben werden, mit einer Stärke von 5 auf der Richterskala bemerkbar. Erst fünf Stunden nach dem Beben sahen die Stromfirmen sich dazu veranlaßt, der Bevölkerung mitzuteilen, daß sie sich nicht in Gefahr befinde. Allerdings existieren selbst für den Katastrophenfall keine Evakuierungspläne. Die japanische Atomindustrie geht einfach davon aus, daß es nicht zu ernsthaften Unfällen kommt, was sie auch schon veranlaßt hatte, beim Bau des Monju-Reaktors auf einen sogenannten core-catcher, eine Auffangeinrichtung für den Fall einer Kernschmelze, zu verzichten:

"Das sind hypothetische Unfälle, für die wir nicht auslegen."

Krise/Referenden

Schon der Monju-Störfall hatte diese Mißstände stärker in das Bewußtsein der Bevölkerung gehoben und zu einem enormen Verlust an goodwill gegenüber der Atomwirtschaft geführt. Das machte sich im gleichen Jahr bemerkbar. In der Gemeinde Maki in Nilgata war der Bau eines neuen AKW vorgesehen. Im Vorfeld der Entscheidung hatte der Bürgermeister die Erteilung der Baugenehmigung vom Ausgang eines Referendums abhängig gemacht; knapp 70% der Bevölkerung stimmte gegen das Kraftwerk und eine Baugenehmigung wurde nicht erteilt.

Noch im gleichen Jahr verschafften sich in einer Petition in der Präfektur Mie wieder japanische Bürger Gehör, die sich nicht einer Gefährdung durch den Bau eines AKW in ihrer Nähe aussetzen wollen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sprach sich gegen den Verkauf von Land an die Chubu Electric Power Co. für den Bau einer Reaktoranlage aus.

Und schließlich zeigte sich, daß auch die langfristige Planung, an der Nuklearenergie festzuhalten und im Rahmen des purusamaru-Planes auszubauen, in Zweifel gezogen wird. Die drei Pröfekturen Fukui, Niigata und Fukushima, in denen mit der Beschickung von Reaktoren mit MOX begonnen werden soll, schoben die Genehmigung des Planes mit dem Verweis auf zusötzlichen Prüfungsbedarf heraus.

Konsequenzen

Alle Stromerzeuger in Japan, die Atomkraftwerke betreiben, haben aus diesen Vorfällen den Schluß gezogen, daß wesentliche Veränderungen und Investitionen im Bereich der Informationsvermittlung notwendig sind, um das Vertrauen der Bevölkerung wieder zu gewinnen. Neben der zügigen Aufklärung der Bevölkerung setzt der Verband der Stromerzeuger Japans viel daran, sein grundlegendes Image in der Öffentlichkeit aufzuhellen und bürgernäher zu wirken (siehe Illustration). Durch das Verabschieden des Environmental Assessment Law im Juni 1997, das endlich eine Umweltvertraglichkeitsprüfung von AKW bindend macht, und den kontinuierlichen Einfluß der Bürokraten in der STA haben sich die Wogen ein wenig geglättet und die Präfektur Fukui hat sogar kürzlich der Implementierung des purusômaru-Planes grünes Licht erteilt.

Allerdings herrscht unter den japanischen Stromerzeugern kein Zweifel daran, daß das gesetzte Ziel der STA, bis zum Jahr 2010 zwanzig neue Reaktoren zu bauen, nicht mehr realisierbar ist und sie haben sich entschieden, mit mehr Nachdruck Alternativen zur Atomenergie wie dezentral gewonnene Solarenergie, Windenergie und insbesondere geothermische Energie zu nutzen. Vor diesem Hintergrund wäre es gut möglich, daß auch die Bürokraten Japans umdenken. In diesem Jahr werden sowohl die Langzeitplanung für Atomenergie der STA als auch die Vorhersage über die Produktion und den Bedarf an Energie in Japan überarbeitet. Hier bietet sich die Möglichkeit, etwas daran zu ändern, daß die japanische Regierung mit Y 494,9 Milliarden noch etwa das 10fache der Summe, die sie für die Erschließung anderer "alternativer" Energien aufwendet, in das jährliche Atombudget investiert. Ökologische, ökonomische und politische Aspekte sprechen dafür.

Aktualisiert: 10.05.2001   |   Kontakt: Webmaster  |  © japonet 2001